Optimierung des Lernens

Verschwendung, Kahlschlag, Abspeichern

Es gibt wohl kaum etwas Friedlicheres als der Anblick von Menschen, die wir beim Schlafen beobachten. Doch dieser Schein trügt. Nachts, wenn unser Bewusstsein eine Pause einlegt, geschehen im Gehirn Dinge, die eher an Konkurrenzkampf, Vernichtung und Verschwendung erinnern. Schlaf ist sehr wichtig für das Lernen, da nachts die tagsüber aufgenommenen Informationen gefestigt werden. 
Doch werfen wir mal einen genauen Blick auf die merkwürdigen Vorgänge in unserem Oberstübchen, wenn Neues ins Gehirn gelangt und vorwiegend nachts verarbeitet wird:

Während der Schwangerschaft sowie kurz nach der Geburt wuchern die Neuronen zu einem eng gepackten Netzwerk heran. Im Verlauf der Jugend werden viele Nervenverbindungen jedoch gekappt. Dieser „Kahlschlag im Neuronenwald“ ist Teil einer Optimierungsstrategie. Um die Effizienz unseres Denkorgans zu steigern, werden unbenutzte Verknüpfungen wieder entfernt. Wieso verlieren wir in jungen Jahren so viele neuro­nale Kontakte – in einer Zeit, in der wir noch täglich Neues lernen? Wir können diesen Prozess der Auslichtung, welcher englisch mit „synaptic pruning“ (to prune = beschneiden) bezeichnet wird, vergleichen mit dem gärtnerischen Schnitt von Gehölzen. Schnell wachsende Blindtriebe sowie verkümmerte Äste werden entfernt, um die Pflanze insgesamt zu kräftigen. Für eine effektive Entwicklung unseres Hirns scheint die Ausdünnung der neuronalen Verbindungen ebenfalls sehr bedeutsam zu sein. 

Alle Impulse gelangen zunächst ins Oberstübchen...

Pruning

Optimierung der Gehirnfunktionen

Für Hirnforscher ist „Pruning“ heute eine Grundvoraussetzung des Lernens. Indem unnötige Kontakte abgebaut werden, passt sich das Gehirn an die individuelle Umgebung des gesamten Organismus an. Somit können gezielt neuronale Bahnen verstärkt werden, welche für die individuellen Lebensumstände relevant sind. Der Rest verschwindet im Nichts.

Doch ist es nicht eine Verschwendung, zunächst Kontakte zu erzeugen, die anschließend vernichtet werden? Das erscheint doch sehr widersprüchlich. Wie der Neuroinformatiker Matthias Henning glaubt, muss das Gehirn erst aus dem Vollen schöpfen, um eine leistungsstarke Zukunft zu ermöglichen. Es ist wie beim Lotto: Wer viele Lose kauft, erhöht seine Gewinnchancen. 
Überflüssige Synapsen zu behalten, würde zu viel Energie kosten. Unser Oberstübchen verbraucht ohnehin mehr Energie als ihm - bezogen auf den gesamten Organismus - zusteht. Eine dauerhafte Verarbeitung unwichtiger Verbindungen ist ineffizient, wenn „irgendwelche synaptischen Hinterbänkler dazwischenrufen“.
Es stellt sich aber die Frage, wer in unserem Oberstübchen die Rolle des Gärtners spielt. Wer also die Beschneidung des Gehölzes vornimmt. Neben sogenannten Fresszellen, die an den Synapsen „knabbern“, lichtet sich das Neuronengestrüpp vorwiegend nachts, wenn das Bewusstsein pausiert. In dieser Ruhephase werden Verbindungen herunter geregelt und viele gekappt. Somit wird auch eine Übererregbarkeit des Gehirns vermieden. 

Bei der Frage, welche Verknüpfung verschwinden muss, scheint folgendes Prinzip vorzuherrschen: „Wer auf der faulen Haut liegt, fliegt.“ Demzufolge existiert zwischen den Synapsen offenbar ein Konkurrenzkampf. Die Nervenverbindungen senden immer, wenn sie aktiv sind, ein Signal aus, das die inaktiven Konkurrenten eliminiert. 
Die Eliminierung von Synapsen begünstigt also das Lernen. Vor und nach der Geburt bildet sich ein starkes neuronales Netzwerk, das sich bis zum Alter von etwa zwei Jahren 
verfestigt. Kleinkinder haben deutlich mehr Nervenzellen als Erwachsene. Die synaptischen Verbindungen fördern neue Lernvorgänge. Je mehr Neuronen vorhanden sind, desto mehr Verbindungen und Muster können gebildet werden. Allerdings sind nicht alle Verknüpfungen sinnvoll, sie werden durch „Pruning“ aussortiert und ermöglichen eine bessere Anpassung an die Umwelt.
 
Je früher gelernt wird, desto besser. Ergebnisse der Bildungsforschung bestätigen: frühkindliche Bildung ist die Grundlage für späteres erfolgreiches Lernen und damit für die kognitive und emotionale Entwicklung.
Haben wir das nicht schon lange gewusst? „Früh übt sich, wer ein Meister werden will!“
 
 
Zitate aus: Gehirn&Geist 7-2022

Wenn das Netzwerk eigentlich zu groß ist, schafft das Raum für Flexibilität

Matthias Henning, Neuroinformatiker